Überblick
Welche Projekte des sozialen Wandels werden derzeit angestrebt oder sind bereits im Gange, um eine Gesellschaft, die auf einer ausbeuterischen Ernährungspolitik basiert, in eine Gesellschaft zu verwandeln, die eine ökologische, gerechte und demokratische Ernährungspolitik fördert?
Dieses breitere Forschungsproblem wird in vier Forschungsfragen näher erläutert:
- Was sind die zentralen Gerechtigkeitsanforderungen, die Bürger*innen und Verbraucher*innen dazu mobilisieren, Ernährungsungleichheiten anzuprangern und alternative Ernährungspolitiken in verschiedenen Weltregionen zu fordern?
- Welches Wissen und welche Technologien werden innerhalb der Ernährungsbewegung gefunden, die darauf abzielen Ernährungsungleichheiten zu überwinden und ökologische, faire und demokratische Ernährungspolitik zu gestalten?
- Wann sind dieses alternativen Wissen und diese Technologien in der Lage, Ernährungspolitik im Allgemeinem und öffentliche Politik im Besonderen zu beeinflussen?
- Inwiefern haben die vielfältigen Krisen (gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch) im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie die Ernährungsungleichheiten verschärft und sichtbarer gemacht, oder günstige Gelegenheiten für einen Wandel in der Ernährungspolitik geschaffen?
Unsere Herangehensweise
Food for Justice führt empirische Forschung in zwei Weltregionen durch: Europa, mit Schwerpunkt Deutschland, und Lateinamerika, vorwiegend in Brasilien. Wann immer möglich, werden auch Fallstudien aus anderen Ländern dieser Weltregionen einbezogen. Food for Justice verortet sich innerhalb aktueller Debatten der Transformationsforschung zu sozio-ökologischem Wandel in der Tradition der kritischen Sozialwissenschaften. Das Projekt beleuchtet Beiträge zu dieser Forschungsagenda anhand des Themas Landwirtschaft und Ernährung. Das Thema wird durch die Perspektive sozialer Bewegungen betrachtet, die sich in der Ernährungspolitik engagieren und hier als Ernährungsbewegungen und Instanzen konzipiert sind, um sozialen Wandel von unten zu betrachten.
Um die Bestrebungen von Ernährungsprojekten zur Umsetzung solcher allumfassenden Transformationen zu bewerten, stützt sich Food for Justice auf den konzeptionellen Rahmen der global verflochtenen Ungleichheiten (Jelin, Motta und Costa 2017; Boatcă 2016) und entwickelt das Konzept der Ernährungsungleichheiten, die multidimensional, multiskalar, intersektional und dynamisch sind. Die konzeptionelle Entwicklung ist ein zentraler Beitrag des Projekts; dabei werden zunächst Transformationsdebatten mit konzeptionellen Entwicklungen in der Forschung zu sozialen Ungleichheiten verknüpft und anschließend die Rolle, die Ernährung in sozio-ökologischen Transformationen spielt, operationalisiert. Food for Justice orientiert sich an dekolonialen und feministischen Epistemologien zu Ernährung, Ökologie und Wissensgenerierung. Dies beinhaltet eine epistemologische Haltung, die darauf abzielt, die abstrakten, universellen und unbestimmten Subjekte der sozialen Bewegungen und der Ernährungspolitik zu dezentrieren.
In dem Food for Justice Working Paper 1 sind weitere Informationen zu unserem Forschungsdesign zu finden:
Transformationsforschung zum sozio-ökologischen Wandel
Geplante Beiträge und Ergebnisse
Food for Justice strebt folgende akademische Ergebnisse an:
a) einen breiteren Ansatz für die Ernährungssicherheit und die Bioökonomie-Agenda in Deutschland aus der Perspektive der kritischen Sozialwissenschaften zu verfestigen. Dies schließt Forschungsthemen wie soziale Ungleichheiten und sozialen Wandel, sowie Beiträge der Umweltsoziologie, Soziologie des Raumes und interdisziplinären Feldern, wie Technologiewissenschaft, Gender Studies, und Decolonial Studies mit ein;
b) zwischen Forschungsfeldern, die oft unter dem Sammelbegriff Food Studies aneinander vorbeigesprochen haben und welche in der Deutschen Wissenschaftslandschaft noch in den Anfängen stecken, zu vermitteln;
c) das Konzept der Ernährungsungleichheiten als einen Beitrag zur sozialwissenschaftlichen Forschung von sozialen Ungleichheiten zu entwickeln;
d) theoretische und methodologische Beiträge zur Transformationsforschung mit einem Fokus auf sozio-ökologischen Wandel zu entwickeln;
e) zu dekolonialen Theorien und Methoden beizutragen, indem Fallstudien aus dem Globalen Norden und dem Globalen Süden unter einer dekolonialen und feministischen Perspektive miteinander verknüpft werden.
Food for Justice strebt folgende praxisrelevante Ergebnisse an:
a) gesellschaftlich geforderte und akzeptierte Lösungen für Konflikte zwischen den Zielen der Lebensmittelproduktion, dem Umweltschutz und dem Klimawandel zu ermitteln, da die Landwirtschaft an diesen Schnittpunkten eine ambivalente Rolle spielt;
b) Wissen und Technologien aufzuzeigen, die bereits auf komplexe Probleme reagieren und zum Beispiel abfallfreie, gesunde, umweltfreundliche und gerechte Lebensmittel, die sowohl Hersteller*innen als auch Verbraucher*innen zugutekommen, produzieren;
c) basierend auf empirischen Studien, politisch relevante Herausforderungen und Möglichkeiten für gesellschaftliche Transformationen von Ernährungssystemen mit sozial, ökologischer und globaler Gerechtigkeit, aufzuzeigen;
d) Analysewerkzeuge anzubieten, um die transnationalen Einflüsse der deutschen nationalen Bioökonomischen Strategie zu bewerten, sowie von erfolgreichen Erfahrungen in Südamerika zu lernen, in dem Fallstudien über Weltregionen hinweg systematisch verglichen und deren transnationale Verbindungen nachverfolgt werden.
e) politisch relevante Informationen und Empfehlungen für Kooperationsagenturen in Deutschland, die an Projekten zur Gewährleistung der Ernährungssicherheit arbeiten, bereitzustellen.
Konzeptioneller Rahmen
Auf der Grundlage des konzeptionellen Rahmens der globalen verflochtenen Ungleichheiten wird Food for Justice verschiedene Dimensionen und Achsen der Ungleichheiten im Bereich der Ernährung in verschiedenen Maßstäben und räumlichen Gegebenheiten sowie deren Reproduktionsdynamiken und Dynamiken des Wandels in der Ernährungspolitik untersuchen.
Mehrfache strukturelle Kräfte
(sozioökonomisch, soziopolitisch, sozioökologisch, kulturell, und epistemisch), die hierarchische Ordnungen in der Ernährungspolitik herstellen
Eine multi-skalare und beziehungsorientierte Perspektive
die sich auf die Interdependenzen zwischen Phänomenen auf verschiedenen Ebenen konzentriert, von globalen historischen Trends bis hin zu lokalen Verhandlungen, die städtische und ländliche Räume überbrücken
Plurale und intersektionale Ungleichheiten
die soziale Gruppierungen betreffen, welche entlang verschiedener Achsen von Ungleichheiten kategorisiert werden
Transformations- dynamiken
in denen Ernährungsbewegungen die Akteure sozialen Wandels sind und gleichzeitig ihre Beziehungen zu etablierten Interessen untersucht werden, die eine Transformation hin zu demokratischen, ökologischen und gerechten Lebensmittelbeziehungen verhindern
Fallstudien
Forderungen nach Gerechtigkeit
Wir haben es satt!
Fallstudie 1 – Wir haben es satt! befasst sich mit der Kampagne „Meine Landwirtschaft“ in Deutschland, einem breiten Bündnis von mehr als 50 Nichtregierungsorganisationen und sozialen Bewegungen, das seit 2011 jährlich einen Protestmarsch unter dem Motto Wir haben es satt! organisiert. Sie mobilisiert Menschen aus dem ganzen Land nach Berlin, um eine Agrar- und Ernährungswende zu fordern.
Marcha das Margaridas
Fallstudie 2 – Marcha das Margaridas ist ein Zusammenschluss von Frauenbewegungen für ein alternatives Model ländlicher Entwicklung, Sozialpolitik und Frauenrechte, welches Forderungen wie Ernährungssouveränität und Agrarökologie einschließt. Dieser wird von ländlichen Gewerkschaften in Partnerschaft mit Agrar- und feministischen Bewegungen organisiert und hat seit dem Jahr 2000 bereits sechs Mal stattgefunden, wobei Frauen aus ganz Brasilien in die Hauptstadt Brasília kamen.
Wissen und Technologien
Alternative Lebensmittelnetzwerke (AFNs)
Fallstudie 3 – Alternative Lebensmittelnetzwerke (AFNs) umfasst die gemeinschaftsgestützte Landwirtschaft in Deutschland, welche als Solidarische Landwirtschaft (SoLawi), bekannt ist, sowie weitere Initiativen die alternativen Formen der Verbindung zwischen Produktion und Konsum etablieren wollen.
Articulação National de Agroecologia (ANA)
Fallstudie 4 – Articulação National de Agroecologia (ANA oder Nationale Agrarökologische Artikulation) ist ein Netzwerk rund um Erfahrungen mit Agrarökologie in Brasilien, das ländliche soziale Bewegungen, städtische Landwirtschaft, selbstorganisierte Nachbarschaften in armen Vorstädten, Hausgärten, und feministische Bewegungen umfasst.
Public Policies
Lokale Ernährungssysteme in der Stadt Belo Horizonte
Fallstudie 5 – Lokale Ernährungssysteme in der Stadt Belo Horizonte konzentriert sich auf politische Innovationen auf lokaler Ebene, in der Metropolregion Belo Horizonte, Minas Gerais, Brasilien. Seit der Umsetzung eines integrierten Ansatzes zur Ernährungssicherheit in den 1990er Jahren, gilt die Stadt als Modellfall für die Förderung des Menschrechtes auf Nahrung und wurde unter anderem in FAO-Veröffentlichungen vorgestellt.
Covid-19-Pandemie
Fallstudie Covid-19-Pandemie und Ernährungsungleichheiten
Aufgrund der Covid-19-Gesundheitskrise und den damit verbundenen sozialen und wirtschaftlichen Herausforderungen wurde die Forschungsfrage „Wie hat die Covid-19 Pandemie zu einer verstärkten Sichtbarmachung, Verschärfung oder Verringerung der Ernährungsungleichheiten beigetragen?“ in das Projekt aufgenommen. Um diese Frage zu klären, wurde eine Reihe an Fallstudien unter dem Sammelbegriff Fallstudien zur Covid-19 Pandemie und Ernährungsungleichheiten mit einbezogen. Während in Brasilien die Ernährungsunsicherheit nachweislich zunimmt, insbesondere in ärmeren Haushalten, die von Frauen oder Schwarzen Personen geführt werden, scheinen die Verwundbarkeiten in Deutschland anders zu liegen, und vorrangig die Situationen von migrantischen Arbeiter*innen in der Lebensmittelindustrie und Landwirtschaft zu betreffen. In beiden Ländern werden die Auswirkungen der Pandemien auf Ernährungsungleichheiten analysiert. Dabei werden wir erforschen, wie Ernährungsbewegungen und alternative Lebensmittelnetzwerke sich an die Pandemie angepasst und die Notwendigkeit für Reformen und Wandel in der Ernährungspolitik bestritten haben.
Methoden
Die Forschungsfragen erfordern verschiedene Arten der Datenerhebung und Analyse, weshalb ein multimethodischer Ansatz gewählt wurde, der sowohl quantitative als auch qualitative Daten umfasst.
So werden die zentralen Forderungen und Gerechtigkeitsansprüche in den Ernährungsbewegungen durch Protestumfragen, qualitative Interviews, Dokumentenanalyse, und Teilnehmende Beobachtung in der ethnografischen Forschung mit sozialen Bewegungen ausgewertet.
Wissen und Technologien in alternativen Lebensmittelnetzwerken und agrarökologischen Bewegungen werden zuerst erfasst und dann durch Interviews und Teilnehmende Beobachtung weiter erforscht.
Politische Innovationen auf lokaler Ebene werden durch Interviews mit Expert*innen und politischen Akteur*innen sowie durch ethnografische Erkundung der Interaktion zwischen Staat und Gesellschaft untersucht.
Die Auswirkungen der Covid-19 Pandemie auf Ernährungsungleichheiten werden durch eine Kombination von öffentlichen Meinungsumfragen zur Ernährungsunsicherheit, Diskursanalysen von Zeitungsartikeln über Ernährung und Pandemien, sowie digitaler Ethnographien und Interviews mit sozialen Bewegungen und alternativen Lebensmittelnetzwerken über ihre Strategien auf die Pandemie zu reagieren, untersucht.
Für alle Fallstudien werden Daten wie Dokumente, soziale Medien und Bildmaterial gesammelt, wobei auch die Möglichkeiten der digitalen Ethnographie genutzt werden.
Gerechtigkeitsforderungen
Welches sind die wichtigsten Gerechtigkeitsforderungen, die Bürger*innen und Verbraucher*innen mobilisieren, um Ernährungsungleichheiten anzuprangern und alternative Ernährungspolitik in verschiedenen Weltregionen zu fordern?
- – Protestumfragen
- – Qualitative Interviews
- – Dokumentenanalyse
- – Teilnehmende Beobachtung
Wissen und Technologien
Welches Wissen und Technologien finden sich in Ernährungsbewegungen, die darauf abzielen, Ernährungsungleichheiten zu überwinden und eine ökologische und demokratische Ernährungspolitik zu gestalten?
- – Mapping
- – Qualitative Interviews
- – Teilnehmende Beobachtung
- – Digitale Ethnographie
Public Policies
Wann beeinflussen dieses alternative Wissen und Technologien die Ernährungspolitik im Allgemeinen und Public Policies im Besonderen?
- – Survey
- – Expert*inneninterviews
- – Interviews mit politischen Entscheidungsträger*innen
- – Ethnographische Arbeit zu den Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft
- – Digitale Ethnographien
Covid-19-Pandemie
Inwiefern haben die vielfältigen Krisen (gesundheitlich, gesellschaftlich, wirtschaftlich, politisch) im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie die Ungleichheiten im Bereich der Ernährung verschärft und sichtbar gemacht, oder haben sie Chancen für einen Wandel in der Ernährungspolitik eröffnet?
- – Öffentliche Meinungsumfrage
- – Diskursanalyse von Zeitungsartikeln
- – Qualitative Interviews
- – Digitale Ethnographie
Food for Justice und Ziele für nachhaltige Entwicklung
Ausgehend von den globalen politischen Debatten über die von den Vereinten Nationen festgelegten Ziele der nachhaltigen Entwicklung (SDGs) wird die Ernährungssicherheit, die als SDG 2 „kein Hunger“ im Vordergrund steht, in ihrer Beziehung zu anderen Zielen betrachtet, insbesondere zu den Zielen Gesundheit und Wohlergehen (SDG 3), Geschlechtergleichheit (SDG 5), weniger Ungleichheiten (SDG 10), nachhaltiger Konsum und Produktion (SDG 12), Leben an Land (SDG 15) sowie Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen (SDG 16).